Armins Party                                                          

 

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Alexa. Ihr Name war Alexa.  Und sie war im Grunde ihrer Ente ähnlich, die sie fuhr. Gelb war die und ohne Ölkontrolllämpchen, also bereits ein altes Teil – das Auto. Aber so eine war sie eben auch, älter schon, und vor allem im Geiste nicht der heutigen Zeit zugewandt mit all den neuen Moden und Versuchungen, die alte Leute so verwirren.

 

     Sie wohnte allein. Bekam selten Besuch. Nur ihre Schwester, jünger als Alexa, schaute gelegentlich vorbei, um zu sehen, ob es der Älteren an Gesellschaft  fehlte. Oder auch um den ein oder anderen Gang in die Stadt für sie zu unternehmen, wenn das Auto gerade seine Launen hatte und nicht fahren wollte, denn es war gebrechlich und mürbe und dankbar, so schien es, wenn es seine letz-ten Tage in der Scheune verbringen durfte.

 

     Alexa wohnte also allein. Lebte allein. Es hatte wohl vor Jahren einen Bewerber gegeben, der sogar für einige Wochen das Bett mit ihr geteilt hatte. Aber am Ende war nicht viel dabei herausgekommen. Man konnte ihn im Grunde nur für Dinge gebrauchen, die Alexa nicht inter-essierten. Bis auf das eine. Aber das war ihr zu wenig.

 

     Es hatte sich – wohl auch aufgrund ihrer Abneigung, sich groß in der Öffentlichkeit zu zeigen –  keine Gelegenheit mehr ergeben, den Mann fürs Leben zu finden. So blieb es also beim Alleinsein.

 

     Sie war eine verschrobene und vertrocknete Alte. Jedenfalls in den Augen ihrer Freunde und Bekannten, den wenigen, die sie hatte. Und bei den Mitgliedern ihrer weitläufigen Familie.

 

     Auch ihre Schwester dachte und empfand so. Immerhin lag zwischen den beiden ein Unterschied von beinahe fünfzehn Jahren.

 

 

 

»Hallo!« Kaum  hatte Emma die Tür zur Diele  passiert, machte sie sich bereits laut bemerkbar. »Jemand da?«

 

     Sie war anders als Alexa: Aufgeschlossen war sie. Of-fen für die Dinge des Lebens. Und schön.

 

     Sie war es gewohnt, durch das halbe Haus zu gehen, bevor sie Alexa irgendwo antraf – meist im Stall bei den Schweinen und Hühnern, mal in der Scheune beim Beladen der Schubkarre oder bei sonstigen Arbeiten, die auf einem Bauernhof anfallen, wobei dieser hier – Alexas Hof – zu den sehr kleinen gehörte, auf denen die Arbeit nicht dem Unterhalt des Lebens, sondern eher der Pflege einer Liebhaberei dient. Ihr Auskommen hatte die Bäuerin alle-mal, denn der Hof war ohne Schulden, und die Provinzial zahlte ihr eine monatliche Rente aus den privaten Ersparnissen ihrer verstorbenen Eltern.

 

     »Wo bist du?«

 

     Alexa stand im Schweinestall. Gummistiefel an den Fü-ßen. Mistgabel in den Händen. Schaute auf. Nur kurz. Fuhr weiter mit der Forke unter den Schweinemist und belud die Karre, die auf dem Mittelgang stand.

 

     »Was willst du?«

 

     »Nichts.«

 

     »Aha!«

 

     »Nur so.«

 

So stand sie da, die kleine Schwester. Still und. stumm für einige Zeit. Die andere, vornübergebeugt, mit dem Mist beschäftigt.

 

     Bis Emma wieder sprach: »Ich wollte nur mal sehen.«

 

     Wieder Stille.

 

     Dann Alexa: »Also, komm! Ich mach uns ´n  Kaffee«

 

     Sie lehnte die Forke an die Holzwand und verließ das Hock.

 

     »Bist mir eine!«, zischte sie im Vorbeigehen. Streifte den Schmutz von ihren Händen am Overall ab und stie-felte voran.

 

     »Heute Morgen fragt mich der von der Post, wie es denn gestern auf Armins Party war.«

 

     Emma wusste nicht, was sie mit ihrer Bemerkung meinte,  konnte nicht erkennen, ob Alexa gar böse war oder auch nur so tat, denn sie lief ja hinter ihr.

 

     »Wieso?«

 

     »Hab ich ihn auch gefragt. Wieso fragst du?, hab ich ihn gefragt«

 

     »Na, du warst doch gestern bei Armin. Oder?, hat er geantwortet.«

 

     », hab ich gesagt.«

 

     Sie schnappte sich den Porzellanfilter, als sie in der Küche waren, und bereitete ihn für den Wasserdurchlauf vor.

 

     »Nö. Ich war nicht bei Armin.«

 

 

 

Emma setzte sich an die Stirnseite des Esstisches, stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände und wandte ihren Kopf zum Büfett, wo die andere heißes Wasser aufgoss.

 

     »Und?«

 

     »Was und

 

     »Was hab ich damit zu tun?«

 

     »Du hast es ihm erzählt, sagt er.«

 

     »Wer – ich ?«

 

     »Na ja, du. Neulich. Dass ich bei Armin war. Auf seiner Party.«

 

     »Ich hab nichts erzählt. Ich hab ihm gar nichts erzählt. Warum sollte ich ihm das erzählt haben. Ich wusste ja nicht mal, dass bei Armin  `ne Party war.«

 

 

 

Alexa hatte vor über dreißig Jahren die Schule verlassen. Ohne Abitur. Ohne Perspektive. Aber die vage Hoffnung im Herzen, ein Mann möge sie aus ihrem Dornröschen-schlaf erlösen, sie der Herrschaft ihres gebieterischen Vaters entreißen, der sie und ihre Mutter tyrannisierte. Armin möglicherweise.

 

     Alexa füllte zwei Becher, stellte einen auf den Tisch und begab sich wieder ans Büfett, wo sie angelehnt und mit verschränkten Armen stehenblieb.

 

     »Du hättest ihn getroffen und von der Party erzählt, neulich, als du in der Stadt warst. Das hat er behauptet. Heute Morgen.«

 

     Emma dachte nach. Sie schaute über den Rand des Kaffeebechers hinweg durch das gegenüberliegende Fenster auf den Hof, wo Alexas Hühner ihr gemütliches Unwesen trieben.

 

     »So´n  Quatsch!«, antwortete sie. »Ja, ja. Ich erinnere mich. Aber ich hab die Partys von damals gemeint, die aus deiner Schulzeit. Davon hab ich gesprochen.

 

     Sie stellte den Becher zurück auf den Tisch, richtete ihren Oberkörper  auf und schaute ihrer Schwester ins Gesicht. Schüttelte verständnislos den Kopf und meinte:

 

     »So´n  Blödsinn! Was der gehört hat!«

 

     »Wer ?«

 

     »Dein Postbüddel. Hat das gehört, was er hören wollte. Kennt man doch.«

 

     Der Kaffee war heiß und gut. Emma umfasste den Becher mit beiden Händen. Nach einer Pause sprach sie weiter:

 

     »Gib´s  zu! Du warst doch früher ´ne richtige Partymaus«. Sie erhob sich, ging ans Fenster, das auf den Hof zeigte, und verfolgte wieder das Scharren und Getue der Hühner da draußen.

 

     »Hast nichts anbrennen lassen. Und mit dem Armin warst du doch bestimmt auch …«

 

     »Was weißt du schon?«, fuhr Alexa ihrer Schwester übers Maul.. Ungewohnt heftig, so dass Emma erstaunt hinübersah.

 

     »Wieso? Du hast doch dauernd von früher erzählt. Wie käm ich sonst darauf?« Emma starrte ihre Schwester mit offenem Mund an. Die hatte sich jedoch schnell wieder beruhigt, als wenn der Ausbruch ihr leid täte, und blickte gedankenverloren ins Leere.

 

     »Das ist längst vorbei, das alles.«, sprach sie leise. Langsam und bedächtig. Die Melancholie, die in den Wor-ten der Bäuerin lag, war Emma fremd. Gewiss: Ihre Schwester war kein Ausbund an Fröhlichkeit. Nie gewesen, seit sie sie kannte. Ein klein wenig verknöchert eher und weltfremd. Wortkarg wohl auch, mundfaul, aber so nachdenklich, so in sich gekehrt, hatte sie sie noch nicht erlebt.

 

     »Ist alles längst vorbei. Ich weiß, wie die Leute über mich reden. Was sie tuscheln. Was sie denken.«

 

     Sie löste sich vom Küchenschrank und nahm auf dem Stuhl neben Emma Platz.

 

     »Hab schon lange keine Lust mehr.«

 

     Emma schwieg. Was meinte Alexa? Wozu keine Lust?

 

     »Ich hatte keine gute Kindheit. Du weißt das. Unser Vater hat mich geschlagen. Bei jeder Gelegenheit. Immer wieder. Schon als kleines Mädchen. Immer wieder. Grün und blau. Bis er nicht mehr konnte. Dann bin ich in den Stall geflüchtet. Geheult hab ich nie.«

 

     Emma schwieg. Aber sie erinnerte sich an Tage, die erfüllt waren von Trauer und Hass. An Tage, die sie nicht verstand., weil sie zu klein war. An Tage, die ihr Angst machten. Sie legte ihre Hand auf Alexas Unterarm.

 

     »Er hat mein Leben zerstört. Es vergeht kein Tag … kein Tag, an dem es mich nicht überkommt. Immer die gleichen Bilder – wie in einem Film. Ich hab keine Lust mehr.«

 

     Alexa flüsterte. Emma neigte der Schwester den Kopf entgegen.

 

     »Wozu hast du keine Lust?«

 

     «Da war noch mehr. Ich hab es immer für mich behalten.»

 

     Emma spürte ein zärtliches Gefühl. Auch das war neu für sie. Nie hatten die beiden Frauen so vertraut und innig zusammengesessen. Nie war Emmas Seele so weit geöffnet für den Schmerz eines anderen Menschen wie in diesem Augenblick.

 

     »Was? Was hast du für dich behalten?«

 

Alexa reagierte nicht auf Emmas Frage. Und die mochte nicht tiefer dringen. So saßen die beiden da und waren sich ohne Worte einig. Bis Alexa aufsprang. Der Stuhl kippte nach hinten. Emma erschrak. Und ihre Schwester wandte sich ab.

 

     Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie weitersprach. Stockend. Mit langen Pausen.

 

     »Eines Tages. Ich war noch klein. Eines Tages fing es an. Ich hörte die Klinke. Wie er sie runterdrückte. Die Tür ging leise. Und als er vor meinem Bett stand, erkannte ich ihn.«

 

     Alexa unterbrach ihre Erzählung. Sie atmete schwer. Ihr Blick war nach innen gerichtet, als würde sie von neuem erleben, was sie im Begriff war, ihrer Schwester anzuvertrauen. Die saß unbeweglich und still da. Hörte nur.

 

     »Seit dem Tag … hat er täglich … fast täglich…«

 

     Sie drehte sich um und ging auf die Schwester zu.

 

     »Komm!«

 

     Dann ergriff sie Emmas Ellbogen.

 

     »Komm!«

 

     Emma gab dem Druck nach und erhob sich.

 

     Alexa ging voran. Sie sprach nicht mehr. Der Weg der beiden führte dorthin zurück, wo Emma ihre Schwester angetroffen hatte, in den Schweinestall. Bereits als sie den Hof überquerten, vernahm sie das vertraute Grunzen der Tiere. Und Emma mochte diesen besonderen Geruch im Stall, der sie unvermittelt in ihre Kindheit zurückversetzte. Wenn sie es genau bedachte: Die Arbeit auf dem Hof würde ihr gefallen. Aber sie war nie auf den Gedanken gekommen, Alexa das Leben einer Bäuerin streitig zu machen. Die gehörte hierher wie ein Rosenstrauch in den Garten.

 

     Die Schwestern durchquerten den Stall und erreichten die Scheune. Sie blieben vor einer alten, verstaubten Holzkiste stehen, die vor langer Zeit zwischen allerlei Ackergeräten und Gerümpel an einer Wand aus nackten Ziegel-steinen abgestellt worden war. Sie schaute auf die Truhe, ohne Anstalten zu machen, irgendetwas zu tun, vielleicht den Deckel anzuheben. Bewegungslos stand sie da, mit starrem Blick.

 

     »Was ist?«

 

     »Du musst sie öffnen!«, befahl Alexa mit belegter Stimme.

 

     Emma näherte sich also dem Möbelstück und be-merkte, dass es nicht verschlossen war. Sie versuchte, das Oberteil aufzurichten. Aber der schwere, gewölbte Deckel stieß beim Hochheben gegen die Wand und wurde  ihr aus der Hand geschlagen. Er fiel mit lautem Poltern auf den Rand der Kiste zurück. Sie suchte sich aus den Holz-latten, die zwischen den Ackergeräten an der Mauer lehn-ten, ein passendes Stück und klemmte es zwischen Boden und Deckel, so dass sie das Innere der Truhe überblicken konnte.

 

     Alexa war mittlerweile zurückgetreten, und Emma war-tete, bis sich der aufgewirbelte Staub gelegt hatte. Sie konnte Werkzeug erkennen und einige kleinen Geräte, mehrere Fleischerhaken, eine winzige Kornwaage, Eisen-ketten, Forken ohne Stil und ähnliches Zeug, das früher irgendwann für die Arbeit auf dem Hof gebraucht worden war, lange ausgedient  jetzt und verrostet. Verschiedene Stoffe lagen obenauf über die gesamte Länge verteilt, die an Kleidungsstücke denken ließen, anscheinend achtlos von jemandem in die Truhe geworfen. Fadenscheinig und halb vermodert.

 

     Ein Gebilde am Ende dieser Reihe von Stofffetzen erregte ihre besondere Aufmerksamkeit. Es brauchte einige Zeit, bis sie erkannte, was sie da liegen sah. Sie wich zurück, stieß gegen den Körper ihrer Schwester und strauchelte, fing sich wieder und konnte aber den Blick nicht lösen von dem Gegenstand da in der Truhe.

 

     Sie spürte, wie Alexa ihr die Hand auf die Schulter legte. Vorsichtig drehte sie sich um und starrte ihre Schwester mit weit aufgerissenen Augen an.

 

     »Sag, dass das nicht wahr ist!«

 

     »Was?«

 

     »Das ist ein Schädel.«

 

     »Ja.«

 

     »Wer ist das?«

 

     »Du kennst ihn nicht. Er hat ein paar Wochen hier gewohnt.«

 

     Emma verstand kein Wort.

 

     »Das ist dreißig Jahre her. Du warst vier.«

 

     »Was ist passiert?«

 

     »Wir waren über irgendwas in Streit geraten. Ich habe vergessen, warum. Er schlug mich. Und das hätte er nicht tun sollen.«

 

     In Alexas Stimme lag eine Schärfe, die Emma vorher nicht gekannt hatte. Sie stolperte beim Zurückweichen und fand Halt an der Mauer. Dort verharrte sie. Glotzte fassungslos in Alexas Richtung.

 

     »Wie … hast du … ?«

 

     »Ich hab´ einen Oleanderbusch im Garten. Du musst nur einen Sud aus den Blättern kochen.«

 

     Alexa hatte ihre melancholische Stimmung überwunden. Und die Antworten auf die Fragen ihrer Schwester gab sie bereitwillig und mit fester Stimme:

 

     »Alle, die mich geschlagen haben, sind so gestorben.. Auch Mutter, die jahrelang geschwiegen hat. Dafür hab´ ich sie bestraft.«

 

   Emmas Blick schweifte langsam über all die Dinge, die hier in der Scheune ihren Platz gefunden hatten. Zwischen der Truhe und dem großen Scheunentor, das auf den Hof hinausführte, stand Alexas gelbe Ente.