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                                                               Kennwort: Roter Mohn

                                                                                     Zweite Leseprobe

                                                                                                    Seite 133 - 141

         Hier ganz in der Nähe stirbt die Protagonistin meines Romans, Angela, nachdem sie von

          ihrem Mörder überfahren wird.

9.11.2007

 

Algeciras war von Torremolinos ungefähr 120 km entfernt. Die Fahrt dorthin würde, einige Eventualitäten eingerechnet, fast zwei Stunden dauern. Wenn der Wagen dann auf dem großen Parkplatz vor dem Fährhafen abgestellt war, musste man noch mindestens zehn Minuten gehen, bis man die Fähre erreicht hatte. So verließen sie Torremolinos bereits kurz vor sieben Uhr, um die Fähre, die um zehn ablegen sollte, ohne großen Stress pünktlich zu erreichen.

   Als Winter die Tasche von Siereck in Empfang nahm, wurde ihm ein klein wenig anders ums Herz. Er wusste, dass sich 1,2 Millionen Euro in Hundert-Euro-Banknoten in dem unscheinbaren Behältnis befanden, und malte sich aus, wie die Menge Geld gestapelt und auf dem Tisch liegend aussah. Es hatte für ihn schon immer eine faszinierende Wirkung gehabt, sich große Geldbeträge auf diese Art und Weise vorzustellen, weil sich ihm dadurch am besten die Macht dieses Gottes Mammon offenbarte, dem er still und heimlich hörig war.

   An ihm, dem Geld, bewies sich für ihn, wer letzten Endes im Leben Bedeutung erlangt hatte. An ihm machte er Erfolg und Misserfolg fest, Bewunderung einerseits und Neid.

   Insgeheim empfand er vor allem eines – auch und vor allem Blankstein gegenüber, der alles besser konnte als er – Neid, wenn er auch ängstlich darauf bedacht war, diesen Wesenszug seiner Persönlichkeit ja nur für sich zu behalten, immer den Ausgeglichenen zu spielen, dem es nichts ausmachte, stets in der zweiten Reihe zu stehen. Die Wahrheit sah mittlerweile anders aus.

Und so wurde ihm ein klein wenig seltsam ums Herz, als er die Tasche aus Sierecks Händen entgegennahm.

   Blankstein fuhr. Die Fahrt ging an Orten mit wohlklingenden Namen vorbei, Orten, die für ihn immer schon der Inbegriff des sorglosen Lebens und des Reichtums waren: Fuengirola, Marbella, Estepona.

   Als sie Estepona hinter sich gelassen hatten, schälte sich langsam ein anfangs hellgrauer, dann immer dunkler werdender kleiner Brocken aus dem Morgendunst am Horizont, der schnell an Größe gewann, je mehr sie nach Süden fuhren: Der Affenfelsen von Gibraltar.

   »Was würdest du machen, wenn du soviel Geld hättest?«

   Die Frage kam unvermittelt. Aber sie amüsierte Blankstein mehr, als dass die Beantwortung ihn vor Probleme stellte.

   »Wieso? Ich hab´ doch fast soviel.«

   Da war sie wieder, diese Arroganz. Diese feinen Anspielungen immer, dass er besser war als die anderen, vor allem als Winter.

   »Im Ernst.« meinte Winter. »Auf einen Schlag 1,2 Millionen! Du müsstest nie mehr arbeiten.«

   »Mein Gott! Die Arbeit gefällt mir doch«, insistierte Blankstein. »Was willst du?«

   »Nichts! War nur so `ne Frage.«

   Der Rest des Weges bis zur Fähre verlief so problemlos wie der Anfang der Reise. Als sie das Schiff sahen, waren sie überrascht von der Größe. Und überrascht auch von der Menge der Menschen, die mitfahren wollten. Vielen sah man nicht an, welchen Geschäften sie drüben in Afrika nachzugehen gedachten. Einige erkannte man sofort als Weltenbummler, junge Leute mit Rucksäcken, die der Zauber Marokkos vielleicht schon lange gefesselt hatte und die jetzt überprüfen wollten, ob dieser Zauber hielt, was er versprach.

   Einige hofften vielleicht, günstig an Drogen zu kommen. Andere waren normale Geschäftsleute, die Handel trieben. Und viele waren Marokkaner, die mit allem möglichen und unmöglichen Zeugs die Decks der Fähre bevölkerten, um es zu Hause innerhalb der Familie zu verteilen.

   Da sah man halbe Fahrräder auf Autodächern festgezurrt, Matratzen, Sonnenschirme und Kartons mit Kleidungsstücken und vieles mehr, was für die Bewohner des reichen Europa nur noch Müll war.

   Um kurz vor zehn wurde das große Tor am Bug des Schiffes geschlossen. Man hörte zwei langgezogene, tiefe Sirenentöne. Und die Überfahrt begann.

   Blankstein und Winter hatten im Salon eines der oberen Decks einen Sitzplatz gesucht und gefunden. Ringsherum konnte man auf das Meer sehen, als sie im Begriff waren, an Gibraltar vorbei die Bucht von Algeciras zu verlassen. Winter verabschiedete sich.

   »Ich geh´ mal hoch«, sagte er und verschwand in Richtung Oberdeck.

   Nachdem sie das Leuchtfeuer am Ausgang der Bucht erreicht hatte, begann die Fähre leichte Schaukelbewegungen zu vollführen, die mit fortschreitender Fahrt stärker wurden.

   Die Meerenge von Gibraltar, dachte Winter, hat eine mächtige Strömung. An Backbord war die Küstenlinie von Afrika zu erkennen. Irgendwo dort lag die spanische Enklave Ceuta, keine zehn Seemeilen entfernt. Er ging hinüber an die Reling, und sah die Berge des marokkanischen Atlas sich schemenhaft aus dem Dunst schälen. Das Rettungsboot, neben ihm auf einer schiefen Ebene befestigt, um im Notfall schnell zu Wasser gelassen werden zu können, hatte an seiner Längsseite ein mit weißem Lack übermaltes Schild, auf dem aber noch irgendeine Anweisung oder Information schwach zu erkennen war …   in dänischer oder schwedischer Schrift.

   Er verließ das Oberdeck und begab sich wieder zu Blankstein, der die ganze Zeit über still auf der gepolsterten Bank gesessen und sich an einem Kaffe festgehalten hatte.

   Die Überfahrt dauerte zweieinhalb Stunden. Die Wellen in der Meerenge hatten Winter zeitweise so zugesetzt, dass er schließlich froh war, als sie den Hafen von Tanger erreichten.

   Was für ein Unterschied! Siereck hatte Recht gehabt: Das hier war eine vollständig andere Welt. Und nur einige Kilometer entfernt lag Spanien in Sichtweite - jenseits der Meerenge. Er wusste im ersten Moment nicht, woran er diesen Unterschied festmachen sollte. Waren es die Häuser der Stadt, ihre Bauweise, die ihm so fremd vorkam? Waren es die fremden Geräusche, die von allen Seiten an sein Ohr drangen, die Gerüche? Oder waren es die Menschen in ihren langen Gewändern. Vereinzelt nur sah er Männer, die nach westlichem Stil gekleidet waren.

   Die Silhouette der Stadt bot von der Fähre aus wenig Aufregendes. Irgendwo sah er die Kuppel einer großen Moschee über die Dächer Tangers hinausragen. Einige kleinere Minarette hier und da zwischen einer unüberschaubaren Zahl von Fernsehantennen.

   Als sie nach der Passkontrolle ihren Fuß auf den Asphalt der Hafenmole setzten, trafen sie auf Farid. Oder besser: Er traf auf sie.

   »Hallo«, sagte er. »Braucht ihr einen Führer?«

   Die beiden blickten sich erstaunt um. Wer konnte hier so ausgezeichnet deutsch? Sie sahen einen Mann mittleren Alters in einen langen Kaftan gekleidet und mit einem dunkelroten Fes auf dem Kopf.

   »Wieso sprichst du so gut deutsch?«

   Der Marokkaner hatte sich rechts neben sie gesellt und begleitete sie.

   »Ich war Professor an der Universität. Mein Deutsch hab´ ich hier von euch gelernt.«

   Winter sah ihn verständnislos von der Seite an. Farid lächelte, als er den Blick erwiderte:

   »Von euch Touristen. Braucht ihr einen Führer? Ja. Ihr braucht einen Führer! Ihr nehmt am besten mich! Ich weiß alle Tricks und kenne alle wichtigen Stellen in der Medina.«

   Blankstein und Winter waren sehr angetan von Farid und vor allem von seinen Sprachkenntnissen. Seine Aussprache und seine grammatischen Kenntnisse waren praktisch von denen eines Deutschen nicht zu unterscheiden.

   Sie sahen sich kurz an und nickten sich gegenseitig zu.

   »Sag einen Preis!« forderte Blankstein.

   »Dreißig Euro«, kam die Antwort.

   »Dann gehen wir allein«, erwiderte Blankstein.

   Farid ließ die beiden weiterziehen und rief ihnen laut hinterher: »Ihr werdet schon sehen!«

   Winter und Blankstein gingen zwar forschen Schrittes, im Herzen aber zögerlich weiter. Sie hatten keine Ahnung, wie sie mit dem Alten verhandeln sollten. Welches Argument konnten sie denn ins Feld führen? Sie wussten, dass sie einen Führer brauchten, um durch die Altstadt zu gelangen, wenn sie nicht die ganze Zeit über von einer Horde schreiender, bettelnder Kinder verfolgt und bedrängt werden wollten.

   Sie hatten die lange Mole, die an ihrem Ende einen Linksbogen machte, eben erreicht, und auch den Frachthafen gerade hinter sich gelassen, als sie auf eine Menschenmenge trafen, die den Hafenausgang blockierte. Und plötzlich tauchte aus ihr Farid wieder auf. Er hielt ihnen die beiden Hände entgegen, mit den Innenflächen nach oben gerichtet und sagte:

   »Also gut: Zwanzig.«

   Die beiden waren froh und schlugen sofort ein. Sie machten Farid klar, dass sie vor dem Besuch der Medina eine Bank finden mussten, eine bestimmte Bank. Winter beförderte den Stadtplan von Tanger aus seiner Gesäßtasche, der eher wie ein Ausdruck von Google-Earth aussah, und hielt ihn Farid vors Gesicht. Er tippte auf eine gekennzeichnete Stelle und sagte:

   »Da müssen wir hin.«

   »Gut, dass ihr mich habt«, stellte der Führer fest, nachdem er einen kurzen Blick auf das Papier geworfen hatte.

Tatsächlich wären die beiden – allein auf sich gestellt – zwangsläufig gescheitert, weil sie sich im Gewirr der Häuser und dunklen Gassen rettungslos verlaufen hätten.

   Der Marsch durch die Medina schien endlos lange zu dauern. Manchmal kam ihnen das Gefühl, als hätten sie eine bestimmte Gasse schon durchquert, als hätten sie das Schild eines Handwerksbetriebes bereits einmal gesehen.

   Kinder liefen spielend und lachend hinter ihnen her. Aber sie wurden nicht belästigt. Denn sie hatten Farid.

   Ein gelber Hund zwängte sich zwischen ihre Beine und brachte sie beinahe zum Stolpern. An ruhigen Plätzen träumten Katzen ihre Katzenträume. Und über allem lag ein wundersames Gemisch aus fremdartigen Geräuschen und betörenden Düften.

   Dieser kleine Kosmos, der mit seinen ganz eigenen Geschichten und fremden Sorgen so weit weg von allem war, was die beiden kannten, erzeugte in ihnen ein Gefühl tiefen Friedens und vollendeter Harmonie.

   Wenn es nach Winter gegangen wäre, hätten sie endlos so weitergehen können.

   Abrupt war die Medina zu Ende, und sie standen auf einer der Ausfallstraßen, die vom Hafen und der Altstadt fort nach Westen führte. Sie befanden sich jetzt im Stadtteil Marshan, den sie ebenfalls ganz durchquerten, bis sie in der Nähe eines Fußballstadions auf ein Gebäude stießen, vor dem ihr Führer stehenblieb. Hier war die gesuchte Bank.

   Der Zeit nach zu urteilen, war man weitaus mehr als fünf Kilometer marschiert. Man bedeutete Farid, vor dem Haus zu warten.

   »Das hier hätten wir nie allein gefunden«, bemerkte Winter.

   »Wie recht du hast«, meinte Blankstein und näherte sich mit der Tasche einem kleinen Verhau in der linken Hälfte des Raumes. Während der letzten Minuten ihres Ganges hierher hatten sie durchaus moderne Gebäude gesehen, in denen sich auch Banken befanden, moderne Banken, die sich durch nichts von den Geldinstituten in Europa unterschieden.

   Aber diese hier entsprach auf fragwürdige Weise genau dem Bild, das man von einer Bank in Marokko hat.

   Der Bankangestellte, der sie in perfektem Englisch begrüßte, trug ein feines Hemd mit einem passenden Schlips dazu und einer leichten Sommerjacke und korrigierte den anfänglichen Eindruck dadurch ein wenig.

   Blankstein hielt einen vorbereiteten Zettel in der Rechten und schob diesen durch die Geldschleuse. Nachdem der Kassierer ihn gelesen hatte, machte er schweigend kehrt, verließ seinen Verhau und bat die beiden Geldboten, ihm in ein Hinterzimmer zu folgen, das sich unmittelbar neben seinem Kassenhäuschen befand.

   »Guten Tag, meine Herren!«

   Auch hier: Perfektes Deutsch. Man wunderte sich nicht mehr. Der Chef der Bank, wenn es denn der Chef war, saß hinter einem ausladenden Schreibtisch aus dem vorletzten Jahrhundert und hatte außer ein paar persönlichen Dingen nichts auf der Arbeitsfläche liegen.

   »Mein Name ist Mohammad Abdussalam Alami.«

   Er reichte den beiden Deutschen im Sitzen seine Hand zum Gruß und wies anschließend auf die beiden Stühle, die vor seinem Tisch standen.

   Es entstand eine kleine Pause, in der niemand etwas sagte. Dann ergriff der Banker wieder das Wort, sprach reichlich zusammenhanglos und unmotiviert von diesem und jenem, bis es Winter wie Schuppen von den Augen fiel. Der wollte sein Bakschisch, natürlich! Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein Bündel hervor, dass Siereck ihm eigens zu dem Zweck gegeben hatte. Er murmelte Unverständliches und übergab dem Banker das Geld.

   »Entschuldigen sie! Hier!«

   »Oh! Vielen Dank« sagte Mohammad Abdussalam Alami. Er tat überrascht und deponierte die Scheine sofort in der oberen Schublade seines Tisches. »Wir freuen uns immer, ihnen und ihrem Unternehmen zu Diensten sein zu können.«

   Blankstein hob die Tasche in die Höhe und reichte sie dem Marokkaner über die Arbeitsplatte. Er bekam eine Quittung, eine, in die man den genauen Betrag bereits eingetragen hatte. Und der Deal war gelaufen.

   Der Nachmittag mit Farid zog sich dahin. Man konnte ihn nicht so leicht loswerden, denn er hatte mit einigen Ladenbesitzern in der Medina Abmachungen, Touristen, die ihn als Führer für die Tour durch die Altstadt angeheuert hatten, gegen eine kleine Provision in ihre Läden zu schleusen. Winter nutzte eine Unterbrechung der Shopping-Tour, um dem Professor klarzumachen, dass man die Fähre nach Algeciras pünktlich bekommen wollte.

   Als sie die Hafenmole wieder erreichten, sah Blankstein hinter dem Schiff, das sie zurück nach Spanien bringen würde, eine moderne Schnellbootfähre am Pier liegen. Sie verkehrte nicht zwischen Tanger und Algeciras, sondern zwischen Tanger und Tarifa, das etwas mehr als zwanzig Kilometer im Südwesten lag. Er hatte bereits davon gelesen. Mit diesem Schiff dauerte die Überfahrt nur einen Bruchteil der Zeit, die die großen Fähren benötigten.

 

 

 In dem "Weißen Dorf" Frigiliana am Ende der Schlucht, deren Durchwanderung den Beginn des Unheils markiert, endet die Geschichte.