Ochsbüll

oder der Gast des Malers

Novelle

                                                                                                                            Ich möchte das Buch kaufen

                                                                                                                                                                                                                                    

 

 

Die Sonne steht still in einem kleinen Dorf zwischen Niebüll und Flensburg im äußersten Norden Deutschlands – jedenfalls für einige Stunden. Zwei Monate später liest der Journalist Heinz Willschrei zufällig eine Zeitungsnotiz über dieses ominöse Ereignis und begibt sich nach Ochsbüll, um Nachforschungen anzustellen. Er nimmt Kontakt auf zu den Einwohnern des Dorfes, von denen er Aufklärung über die Ursachen und Hintergründe erhofft, die dieses physikalisch unmögliche Naturschauspiel angeblich ausgelöst und herbeigeführt haben. Er lernt die Menschen als offen, liebenswert und freundlich kennen. Das Sonnenphänomen aber bringt ihn an den Rand seines Verstandes.

                                                                        L e s e p r o b e    (Anfang)

1. Kapitel

 

Der Hergang der Ereignisse, die diesem Bericht zugrunde liegen, nahm seinen Anfang in einem kleinen Ort Norddeutschlands nahe der Grenze zu Dänemark. Ja, dieser Ort war vielmehr der eigentliche Schauplatz, wenn man davon absehen will, dass die Drahtzieher, die Verursacher dieser  - sagen wir - Verwirrung möglicherweise woanders zu suchen sind – der Schauplatz einer Geschichte, die den Beteiligten gelegentlich noch heute zu denken gibt und ihre Gemüter in Aufruhr versetzt.

Der Name des Ortes tut nichts zur Sache. Vielmehr soll, um unschuldigen Bewohnern, die in diese abenteuerliche Angelegenheit verstrickt waren, nicht ihr mittlerweile wieder besinnliches Leben durch die Sensationslust neugieriger Zeitgenossen zu erschweren, auf Orts-  und Personennamen zurückgegriffen werden, die frei erfunden sind.

Auch Monat und Jahr sind ohne Belang, denn in jenen Tagen geschah rein gar nichts, was irgendwie typisch zu nennen wäre für einen bestimmten Abschnitt in der Geschichte der Region. Anders ausgedrückt: Ort und Zeit sind austauschbar – Ort, Zeit und Personen.

 

Der Stein kam durch einen dummen Zufall ins Rollen. Das heißt: Im Grunde genommen war es nur mein fahrbarer Untersatz, der ins Rollen kam. Die Sache selbst war bereits vor einigen Wochen über die Bühne gelaufen. Und welcher Anteil in der Geschichte dem Zufall zuzuschreiben ist? Na ja, um genau das herauszubekommen, bin ich hier.

Ich heiße Heinz Willschrei, bin Journalist, achtundvierzig Jahre alt, ledig, evangelisch, und hab´s mir vor gut fünf Minuten auf der Schlafcouch eines tristen Fremdenzimmers in diesem Dorf, diesem Flecken zwischen Flensburg und Niebüll, so gemütlich wie möglich gemacht.

So gemütlich wie möglich heißt: Die Stahlfedern sind im Eimer, durch die Fensterritzen tobt ein Oktobersturm, und wenn ich beide Arme seitlich ausstrecke, kann ich die Zimmerwände zum Einsturz bringen. Jedenfalls berühren kann ich sie. Gleichzeitig. Fast.

Ich liege auf dem Bauch, unter meinem Kinn ein Schreibblock. Die Zeilen hier sind die ersten einer Art Tagebuch, das ich mir vorgenommen habe zu schreiben, jetzt vor sieben Minuten vorgenommen habe.

Warum Tagebuch? Man sollte denken, Journalisten schreiben keine Tagebücher, sondern Berichte, Artikel, Reportagen oder sonst was. Jedenfalls Sachen für Zeitungen. Die Erklärung liegt darin, dass ich seit einer Woche ohne Arbeit bin, entlassen, gefeuert sozusagen, von einem Tag auf den anderen. Und das ohne Kündigungsfrist? Unmöglich, denkt man. Da muss dann doch was ganz Schwerwiegendes vorgefallen sein.

Na! Schwamm drüber! Es war ja was Schwerwiegendes. Ich weiß, dass der interne Nachrichtendienst der Verlage reibungslos und schnell arbeitet. Nicht einmal als Zeitungsjunge finde ich je wieder eine Beschäftigung in der Branche.

Zugegeben, mit dem Gedanken habe ich eigentlich schon seit Jahren gespielt: Nämlich diesen Job mit seinem Druck, Tag für Tag dumme, geistlose Texte abliefern zu müssen, endlich hinzuschmeißen. Na, also! Das war´s.

Ich schreibe ab jetzt auf eigene Rechnung. Aus diesem Tagebuch werde ich irgendwann einen Roman machen. Wer weiß – vielleicht finde ich auch einen Produzenten, der ihn verfilmt. Das Problem ist nur: Eine Geschichte muss her! Dies könnte sie sein.

 

»Hallo, Heinz! Zum Chef!«

Am Tisch im Redaktionszimmer des Lüneburger Anzeigers saß Fritz Lenge, der Redakteur fürs Politische. Willschrei, der Lokalreporter, hatte gerade die Tür geöffnet und den Raum noch nicht ganz betreten. Sah hinüber zu Lenge.

»Der kann mich.«       

»Der Alte tobt.«

»Ach was! Soll er doch! Ich hab´ auch´n schlechten Tag erwischt, heute. Weißt du, was er will?«

Lenge unterbrach seine Arbeit, schaute auf und schüttelte wortlos den Kopf.

»Lass sein! Ich kann´s mir denken. Die Sache mit dem Stadtvertreter. Na, du weißt schon.«

»Die Affäre Koch«, erwiderte der Kollege.

»Ja.«  

Der Reporter zeigte mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung Chefzimmer. »Ist er drin?« Er fingerte eine Zigarette aus der Schachtel.

»Ist er. Brauchst nur reinzugehen.« 

Heinz gab der Zigarette Feuer, trat ans Fenster und schaute auf den Hof hinaus.

»Fünf Minuten wird er warten können.« Er sah draußen nichts Bestimmtes, hing nur seinen Gedanken nach. Lenge machte sich wieder ans Redigieren und schwieg ebenfalls.

Die Affäre Koch war alltäglicher Kram gewesen, normale Recherche, wie sie überall und jeden Tag durchgezogen wird: Koch, der Stadtvertreter Koch, war auf fragwürdige Art und Weise zu einem millionenschweren Aktienpaket gekommen. Man sprach davon, dass der Mann beste Kontakte zu Waffenhändlern und ähnlich zwielichtigen Gestalten unterhielt. Auch kirchliche Vertreter hatten angeblich an geheimen Treffen teilgenommen. In diesem Sumpf hatte Willschrei angefangen herumzustochern.

»Willschrei!«

Der Chef. Hätte die Zigarette auch noch abwarten können. Willschrei drückte sie aus. Sein Blick traf auf Lenge, der sich erwartungsvoll zurücklehnte und ihm leise »Mach ihn fertig, Heinz!« hinterherrief.

»Nimm Platz!«

Willschrei versuchte, die Stimmung seines Gegenübers zu taxieren. Er konnte die Lage schwer einschätzen, denn der Chef war eigentlich nicht unfreundlich, eher sachlich höflich. Er wartete ab, bis sein Vorgesetzter sich ebenfalls gesetzt hatte. Dann schob dieser ihm einen Packen Briefe entgegen.

»Was, meinst Du, ist das?«

»Briefe.«

»Was, meinst Du, steht drin?«

»Kann ich schlecht wissen.«

»Lies!«

Willschrei nahm den ersten in die Hand und begann, still zu lesen: … möchte ich Sie dringend ersuchen, Ihre Methoden der Informationsbeschaffung zu überdenken und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Hochachtungsvoll …

Unterzeichnet war das Schreiben von irgendeinem Stadtfuzzi. Der Tenor der ersten drei, vier Briefe war der gleiche: Man wollte, dass er, Willschrei, seinen Abschied nahm. Gewiss stand in jedem der Schreiben der gleiche Mist.

»Nun? Sag was!«

»Was soll ich sagen? Soll ich mich rechtfertigen?«

»Ich erwarte, dass Du Stellung nimmst. Der Mann, den Du da bloßgestellt hast, dieser Koch …«

»… hat eindeutig Dreck am Stecken, Chef«, warf Willschrei ein. »Und der ist Stadtvertreter. Wohlgemerkt!«

»So kommen wir nicht zusammen, Mann! Du weißt selbst, welche Macht diese Leute haben. Wenn wir hier nichts unternehmen, kann es sein, dass unser Blatt in vier Wochen keinen Pfifferling mehr wert ist. Das weißt Du so gut wie ich.«

»Ich soll mich also von meiner Recherche distanzieren! Mich selbst verraten, sozusagen! Das meinst Du doch. War alles nicht so gemeint. Oder noch besser: Ich hab´mich getäuscht. Kann ja mal vorkommen.«

Willschrei war eine Art Mut zugewachsen, dem man bei Jugendlichen begegnen kann, wenn sie trotzig sind.

»Wie stehst Du denn persönlich zu der Sache, Chef`? Hab´ ich wirklich was falsch gemacht?«.

Sein Gegenüber starrte wie gedankenverloren zur Seite, die Ellbogen aufgestützt und die Hände unter der Nase gefaltet. Sekundenlang war Stille. Dann wandte der Chef seinen Kopf langsam nach vorn: »Willschrei! Du hast Dir auf verbotene Weise Zugang zu Informationen verschafft. Das ist unter Strafe gestellt. Welcher Art diese Informationen sind, ist doch ohne Bedeutung. Das Wie– darauf kommt´s  an. Und ich will Dich gar nicht an die Sachen erinnern, die Du vorher verbockt hast.«

Der Ton wurde väterlich und eindringlich. »Wenn Du selbst also nicht einsichtig bist, zwingst du mich, Anzeige gegen Dich zu erstatten. Wenn das nicht der Koch mittlerweile schon getan hat.«

»Hör auf! Mir brauchst Du nicht zu erzählen, was da abläuft: Du willst Dein Blatt sauber halten, und dafür muss ich gehen. Du willst Dein Gesicht nicht verlieren. Ist doch so!«

Keine Reaktion.

»Dann ist doch alles klar. Nimmst Du meine Kündigung an?«

Die Antwort kam emotionslos. »Ja. Mit sofortiger Wirkung.«

Willschrei erhob sich und ging ohne Gruß. Darauf zu warten, dass der Chef ihm gekündigt hätte, wäre nicht nur zwecklos gewesen, sondern hätte ihm Wochen erniedrigender, stupider Botenarbeit eingebracht, die ihm nach dem Gespräch mit Sicherheit zugeschoben worden wäre. So aber waren die Verhältnisse klar. Und die Affäre Koch köchelte ja noch. Da hätte er dann umso mehr Zeit, das Feuer zu schüren.


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