Das weiße Kleid

 

 

„Mach´ schon! Wir haben nicht ewig Zeit.“

Meike hob den Kopf und warf ihm einen gehässigen Blick zu. Kümmerte sich weiter um ihr Make-up, konzentriert und unaufgeregt. Hatte alle Zeit der Welt. Saß da und verteilte die Schminke aus den Tiegeln, die vor ihr verstreut auf dem Tisch standen, in ihrem Gesicht.

    Frank lehnte am rechten Türpfosten und verdrehte die Augen. Immer dasselbe! Immer nahm sie sich einfach Zeit, die sie nicht hatte, und ließ ihre Umwelt warten – ohne Rücksicht auf Termine, Absprachen, Fahrpläne. Einfach nur rücksichtslos, sowas! „Weiß Gott, ich hasse das!“ Er machte auf dem Absatz kehrt und trat wieder ins Wohnzimmer. Kam sich vor wie ein Rennpferd, das hinter der Startmaschine nervös hin und her tänzelt, wie ein Hund vorm Gassigehen, wenn das Herrchen sich nicht von den Filmberichten der Bundesliga lösen will.

   Er wandte sich wieder der Schlafzimmertür zu und warf einen wütenden Blick auf ihren Hinterkopf.

   „Du wirst es abwarten“, tönte ihre Stimme vom Schminktisch herüber zu ihm. „Wir waren noch immer pünktlich – wenn es das ist, wovor du Angst hast.“

   Sie ließ sich durch sein nervöses Treiben nicht irremachen, streckte ihr Kinn dem Spiegel entgegen und ließ ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein, als wenn nichts wäre. Kein Zeitdruck. Keine Verpflichtung. Keine Einladung. Die übrigens schon seit Monaten im Terminkalender stand. Seit  M o n a t e n!

   Er nahm alles sehr ernst im Leben. Zu ernst, war ihre Meinung. Und sie sagte es ihm auch oft. „Bleib´ locker, Fränkie!“ Ganz cool bleiben! Die Welt dreht sich weiter, auch wenn wir zu spät kommen.“

   Er war aber nicht cool. Er war nicht locker. Beim besten Willen nicht. Und wie oft hatte er es versucht!

   Neulich, das war so eine Gelegenheit. Neulich in Tinningstedt. Bei Horst-Dieter, seinem Schwager.

   „Machen wir uns doch nichts vor“, hatte der schwadroniert. „Das mit dem Ausstieg aus dem Atomstrom war ein Fehler. Kuck´ dir die Strompreise an! Der Stromkunde muss teuer dafür bezahlen, dass du mit deiner Photovoltaikanlage vom Staat Geld bekommst. So sieht´s doch aus!“

   Was war denn das für ein Blödsinn, dachte Frank. So eine Spießerscheiße! „Nu mach´ aber halblang!“ erwiderte er mit bebendem Unterton in der Stimme. “Dass die Strompreise mit meiner PV-Anlage aber rein gar nichts zu tun haben, müsste bei dir eigentlich auch schon angekommen sein.“

   Er registrierte diesen besonderen Blick seiner Frau nur aus den Augenwinkeln. Ganz locker, Fränkie, sollte das heißen. Ganz cool bleiben!

   Oder die Sache mit Werner Bruckner, ihrem Steuerberater. Ihm war da was zu Ohren gekommen. Gar nicht prickelnd, was da zwischen dem und Meike gelaufen war. Das Ding war noch nicht gegessen, das hatte er sich geschworen.

 

Frank fuhr. Er warf einen kurzen Blick nach rechts und sah seine Frau neben sich, bewegungslos und mit gespaltenem Schädel durch die Frontscheibe auf den Lichtkegel glotzend. Die Axt steckte ihr im Kopf. Blut rann ihr übers Gesicht und quoll in den Ausschnitt hinein. Besudelte ihr weißes Tüllkleid von oben bis unten. Die Illusion war perfekt. Als Unbeteiligter würde man einen heiligen Schrecken bekommen, das war sicher. Und der Preis für das beste Kostüm würde ihr kaum zu nehmen sein.

Aber sie musste doch frieren. Ein Kleid aus Gardinenstoff!

   „Frierst du nicht?“ Er schaute wieder geradeaus, während er fragte. „Du musst doch frieren!“

   „Nö! Bin viel zu aufgeregt.“

   Jetzt schaute er sie an. „Du und aufgeregt? Gibt´s das?“

   Draußen war es stockdunkel. Seit einiger Zeit waberten Nebelschwaden über die Fahrbahn, wurden dichter. Die Scheinwerfer des Vito fingerten über den grauen Schleier hinweg und verzauberten die Landschaft. Verwandelten sie in eine fremde, bizarre Welt. Unvermittelt erschien es ihm, als wären sie allein auf der Straße, als hätten alle anderen beschlossen, dieser dicken Suppe wegen zu Hause zu bleiben. Kein Gegenverkehr. Nicht einmal ein einsames Auto zum Überholen. Nichts.

     Seine Stimmung war das, was man bescheiden nennen konnte. Er hatte nicht für einen Cent Lust, an diesem albernen Mummenschanz teilzunehmen. Zum ersten Mal hatte der Familienrat beschlossen, Halloween zu feiern. So, wie die Amis das tun. Mit Verkleiden. Mit Blut. Mit Gewalt und Tod. Je gruseliger, desto besser. Pah! Er konnte sich den Abend anders vorstellen. Aber Meike. Ja. Das war so richtig nach ihrem Geschmack. Mal wieder ordentlich abtanzen. Mal richtig abfeiern. Wie er das hasste!

   „Was war mit Werner?“

   Beide schauten geradeaus. Sie antwortete nicht. Er hatte gut zu tun, die Straße im Blick zu behalten, um nicht vom Weg abzukommen. Sie räusperte sich leise. Er wollte nachhaken. Tat´s nicht. Wieder dieses Räuspern. Dann fragte er doch: „Was war mit Werner? Neulich.“

   Er bemerkte, wie sie verhalten mit den Achseln zuckte. Spürte, dass da was war. Ein kurzer Blick zu ihr. Nichts.

   „Also. Sag´ schon!“

   „Was soll gewesen sein?“ Jetzt schaute sie hinüber zu ihm. Kurz nur. „Nichts! Da war nichts.“

   Stille. Nur das leise Geräusch des Motors. Draußen der Nebel.

   „Das glaubst du doch selbst nicht.“

   Er hatte sich gut im Griff, blieb locker, blieb cool, was sein Äußeres anging. Im Innern war alles anders. Er spürte sein Herz in der Kehle. Seine Handflächen waren feucht.

   „Ich hab´ euch geseh´n.“

   „Das kann nicht sein.“

   Er hatte einen Hass auf diesen Werner. Mindestens seit dieser Geschichte hier. Aber er hatte ihn auch vorher nicht sonderlich gemocht. Und er wollte das jetzt klären. Jetzt, wo er endlich den Mut gefunden hatte, die Sache anzugehen.

   „Lüg´ mich nicht an!“ Seine Stimme kam leise, und es lag ein Drohen in ihr. Er blickte konzentriert auf die Straße, musterte sorgsam die undurchdringliche Wand, durch die sich der Wagen bewegte, um bei plötzlich auftauchenden Schlusslichtern rechtzeitig bremsen zu können.

   „Lüg´ mich nicht an!“ wiederholte er und betonte jedes einzelne Wort. „Du hast einen Fehler gemacht.“

   Ihre Ehe war schon seit langer Zeit nur noch eine Farce, eine Karikatur von Ehe. Aber er hatte das bisher ignoriert, nicht wahrhaben wollen. Sozusagen gute Miene zum bösen Spiel gemacht.

   „Welchen Fehler meinst du?“ Auch Meike sprach ruhig und gefasst. Ihr war nicht entgangen, dass man sich auseinandergelebt hatte, natürlich nicht. Das war jetzt also die Stunde der Wahrheit. Aha!

   „Dein Handy. Du hast dein Handy vergessen. Neulich. Auf dem Couchtisch.“

   Schlagartig wurde ihr bewusst, dass er recht hatte. Er hatte die SMS gelesen. Was wurde das hier? Die große Abrechnung? „Mach dich nicht lächerlich!“

   Er verzog die Mundwinkel zu einem fiesen Grinsen. „Wer macht sich hier lächerlich?“ Seine Erwiderung geriet lauter als gewollt. Aber das entsprach seiner Stimmung. Er hatte nicht vor, den Schein zu wahren. Jetzt nicht mehr.

   „Du hast doch was mit dem Bruckner. Nicht ich.“

   Sein Grinsen, sein blödes Grinsen irritierte sie. „Ja! Und? Willst du wissen, wieso?“

   Er bremste unvermittelt. Mit aller Macht wurde sie in den Gurt gepresst. Die Plastikaxt löste sich vom Schädel und flog scheppernd gegen die Windschutzscheibe. Als der Wagen stand, machte er den Motor aus, zog den Zündschlüssel und starrte weiterhin auf die Straße.

   Meike verharrte unbeweglich neben ihm. Was? Was, um alles in der Welt, war das? Wollte er jetzt ernsthaft mit ihr über Werner reden? Sie versuchte, geräuschlos zu atmen. Wollte er ihr Angst einjagen? Oder was sollte das jetzt?

   Dann bewegte sie langsam den Kopf nach links, nur ein kleines Stück. „Was soll das?“, fragte sie leise. Als nichts kam, wiederholte sie die Frage: „Was soll das?“

   Und als er endlich sprach, war seine Stimme tief und rau. Und sie spürte, dass er keinen Widerspruch duldete.

   „Du steigst jetzt aus!“

   „Ich versteh´ nicht.“

   „Aussteigen!“

   Fieberhaft glitten ihre Finger über die Gurthalterung und lösten die Sicherung. Was passierte hier? Plötzlich wurde ihr klar, dass sie keine Jacke dabeihatte.

   „Raus jetzt!“

   Sie fand den Türöffner, stemmte sich gegen die Innenverkleidung und setzte ihren Fuß aufs Trittbrett, als die Tür offenstand. Blickte zurück, zögerte. Nebelschwaden waberten an ihr vorbei, und die Kälte ließ sie zittern.

   Er hatte das Auto verlassen und stand jetzt vor der geöffneten Beifahrertür. Sie stöhnte leise auf, als seine Hand ihren Arm ergriff und sie vom Wagen wegzog.

   Er hatte keinen Plan. Nur, dass er die Macht, die er jetzt spürte, nicht mehr abgeben wollte, das war ihm klar. Er zerrte ihren Körper nach vorn. Sie taumelte, fiel auf den Asphalt, kam wieder auf die Beine. Als sie einige Meter gegangen waren, tauchten Bäume aus dem Nebel auf, links und rechts der Fahrbahn. Das war der Langenberger Forst. Jetzt wusste er, wo sie sich befanden. Nur noch einige hundert Meter bis nach Halloween. Und abseits der Straße, in den Wald hinein, da wusste er einen Steinbruch. Instinktiv nahm er die Richtung dorthin, als er den Weg erkannte.

   Sie schwiegen. Nur das Rascheln der Blätter und das Knacken der Zweige, die auf dem Weg lagen, erfüllte die Luft. Der Nebel verstärkte jedes Geräusch.

   Behutsam tastete er sich vorwärts, Meike hinter sich herziehend. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Er kam nicht auf die Idee, sich zu fragen, was er hier tat. Lief wie in Trance. Auch seine Frau. Beide. Wie in Trance.

   Aber dann stolperte sie, schrie auf und stöhnte. Und plötzlich war wieder Leben in ihr. Sie stemmte sich hoch, raffte den dünnen Kleiderstoff und begann zu rennen, hinein in die Dunkelheit. Taumelte mehr, als dass sie lief, kam ins Straucheln, fing sich wieder, rannte schneller.

   „Bleib stehen! Wo willst du hin?“

   Aber sie hatte keine Zeit zu antworten, nicht Muße genug für Überlegungen. Gedankensplitter verirrten sich in ihr Bewusstsein: Frank! Tinningstedt! Werner! Dichter Nebel auf der Straße! Halloween! Weiter!

   Was geschah? Ihr wurde bewusst, dass sie um ihr Leben lief. Hinter sich hörte sie den Atem des Verfolgers. Das konnte nicht Frank sein, nicht ihr Mann. Der hier war verrückt. Und sie kannte den Weg nicht, war noch nie hier gewesen, wusste nicht, wohin sie lief.

   Vielleicht sollte sie stehenbleiben, einfach stehenbleiben. Dann könnte sie mit ihm reden. Über ... Über alles eben.

   Sie hastete weiter, einem unbekannten Ziel entgegen. In einiger Entfernung erkannte sie eine sanft ansteigende Bergkuppe. Der Nebel war durchlässiger geworden, und zwischen den Baumstämmen schimmerte ein schwaches Licht. Dahin!

   „Bleib stehen, verdammt! Ich tu dir nichts.“

   Nein! Sie konnte jetzt nicht stehenbleiben. Wenn sie das tat ... Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Vor ihr, keine zehn Schritte entfernt, tat sich ein Abgrund auf. Ihre Füße schmerzten. Sie blickte sich um. Er kam näher. Vor ihr der Abgrund. Ein, zwei Schritte noch! Vorsicht! Sie hörte ihn kommen.

   „Ich bin´s. Frank. Hörst du?“

   Sie war verdammt schnell gelaufen. Egal. Jetzt hab´ ich sie, dachte er. Da vorne kommt sie nicht weiter. Und jetzt wird diese ganze Scheiße ein für alle Mal geklärt.

Er stoppte. Keine fünf Schritte entfernt sah er sie stehen, schemenhaft. Blickte in seine Richtung. Tja! Das war´s denn wohl.

   „Nun komm´ schon!“ Er sprach zu ihr wie man zu einem kleinen, ängstlichen Hund spricht, dem man die Leine anlegen will. „Komm´ schon! Ich tu dir nichts.“

   Und ganz vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Näherte sich. Hob langsam seine Hand. Fasste nach ihr. Sie trat einen Schritt zurück. Er schnellte nach vorn. Erwischte ihren Ellbogen. Sie verlor das Gleichgewicht. Fiel. Lautlos. Den Abhang hinab.

     Sekundenlang war Ruhe. Er wagte kaum zu atmen, bewegte sich nicht, hielt sich mit einer Hand fest, hing an einem Zweig, den eine kleine Tanne vorwitzig über den Abgrund hielt. Sein Blick folgte dem Fall seiner Frau. Weit unten sah er ihr weißes Kleid schwach in der Dunkelheit leuchten.

 

Der Saal platzte aus allen Nähten. Vom Eingang kommend musste man die Tanzfläche durchqueren, um am anderen Ende zum Tisch der Familie zu gelangen, der sich unmittelbar neben der Bühne und vor den Toiletten befand. Zur Fülle des Saals gesellte sich also noch der Umstand, dass ein reger Verkehr vorbeieilender Menschen den Tisch passierte, was aber der Stimmung, die hier herrschte, keinerlei Abbruch tat.

   Neben Horst-Dieter, Meikes Bruder also, und seiner Frau, die aus Tinningstedt kamen, waren da noch die Flensburger, zwei weitere Geschwister mit Anhang, und die Leute aus Großenwiehe, entfernte Verwandte, Vettern womöglich.

   Man hatte bereits reichlich vom Cola-Rum probiert, der in Literpötten überall auf den Tischen bereitstand. Man prostete sich gegenseitig zu und ließ keine Gelegenheit aus, sich mit Trinksprüchen zu überbieten, die man dem Augenblick widmete oder auch höheren Bestimmungen.

   Und vor allem hatte man die einfallsreichen Kostüme der Festgemeinde im Visier, die man verglich und lobte, die man aber auch unbeachtet ließ, wenn die Phantasie zu wünschen übrig gelassen hatte, kurz: die man zum Anlass nahm, miteinander zu sprechen und zu streiten. Und das ging alles sehr geräuschvoll vor sich, denn das, was ein Fest erst zum Fest macht, die Musik also, war lauter, als vielen der Feiernden lieb sein konnte. Andererseits weckte sie Erinnerungen an die Jugendzeit, als so manch einer den Diskotheken in Leck und Niebüll noch regelmäßig seine Aufwartung machte.

   Es war gut und gern ein Dutzend verkleideter Menschen, die sich an diesem Tisch versammelt hatten, die Spaß haben wollten beim Trinken, Tanzen und Klönen, sich mal wieder in geselliger Runde treffen ohne Krippenspiel und Weihnachtsschmus.

   Die Atmosphäre im Saal war eine turbulente Mischung aus Qualm, Musik und Grusel, Lachen und lauten Gesprächen.

   Gar nicht weit entfernt von besagtem Tisch saß einer, der auffällig oft da hinüberschaute. Sicher kannte er den ein oder anderen. Das war nicht zu vermeiden in dieser bevölkerungsarmen Region. Aber der wahre Grund für seine Neugier war ein anderer: Er suchte nach einem weiblichen Mitglied der Familie, das offensichtlich nicht anwesend war. Andererseits wollte er diese Suche so unauffällig wie möglich gestalten. Es kam nicht infrage, einfach so dort drüben aufzuschlagen und beiläufig nach Meike zu fragen. Ihr Verhältnis war ja ein geheimes, noch frisch und jung. Da wollte er sich ungern peinlichen Fragereien und Verdächtigungen aussetzen. Dieser eine war Werner Bruckner, der Steuerberater fast der Hälfte aller Anwesenden und auch der von Meike und Frank.

   „Wollte Frank nicht kommen?“ Er hatte sich zu seinem Nachbarn hinübergebeugt und dem die Frage ins Ohr gebrüllt.

   Der schaute ihn an, dachte kurz über die Sache nach und meinte: „Ich glaube nicht. Du kennst den doch. Der ist für sowas nicht zu haben.“

   „Und Meike?“

   Der andere schaute ihn wieder an, lächelte vielsagend und hob sein Glas: „Aha! Daher weht der Wind. Nachtigall, ick hör´ dir trapsen.“

   „Wie?,“ entgegnete Werner. „Nix is mit Nachtigall“.

    Auch die Familie war unruhig geworden.

   „Das ist doch sonst nicht Meikes Art“, meinte ihr Bruder zu seiner Frau. „Man kann immer mit ihr rechnen, wenn´s zum Tanzen geht.“

   „Ruf´ an!“

   Ohne zu antworten, ließ er seine Tanzpartnerin auf der Tanzfläche stehen, fingerte sein Handy aus der Jackentasche und stakste über das Parkett hinüber in den Schankraum.

   Werner erhob sich.

   Er hatte gesehen, was Horst-Dieter vorhatte und folgte ihm. Am Tresen in der Kneipe war ebenfalls die Hölle los. Aber die Musik aus dem Saal störte hier nicht mehr. Man konnte sich in gewohnter Lautstärke unterhalten. Und telefonieren konnte man.

   Werner näherte sich Meikes Bruder, der abseits stand und das Handy ans Ohr hielt.

   „Was ist?“, fragte Werner, ohne Rücksicht darauf, welche Schlüsse Horst-Dieter aus der Frage ziehen konnte.

   Der Angesprochene drehte sich um, schüttelte den Kopf. „Nichts ist.“ Sah ihn an, klappte das Handy zusammen und näherte sich dem Tresen. „Willst du auch´n Bier?“, fragte er, ohne sich erneut umzudrehen, und bestellte per Handzeichen zwei Flaschen Flensburger, ohne Werners Antwort abzuwarten. Als sie nebeneinanderstanden, die Ellbogen auf den Tresen gestützt, und der erste Schluck durch die Kehle gelaufen war, bekam Horst-Dieter Mut:

   „Du hast was mit ihr, stimmt´s?“

   Werner antwortete nicht. Nicht sofort. Er checkte ab, was ihm an ihr lag, ob er sich also outen sollte oder lieber nicht, ob ihr Verhältnis nur ein Verhältnis war oder schon eine Beziehung.

   „Und wenn?“, meinte er.

   „Na, ich frag´ ja nur. Was sagt Frank denn dazu?“

 

Frank begann, leicht mit den Beinen hin- und herzuschwingen, um mit dem freien Arm ebenfalls Halt an einem Zweig des Bäumchens zu finden. So wollte er sich dann vorsichtig mit dem Gesicht zum Hang drehen und seinen Körper nach oben ziehen. Er war erstaunt, als er feststellte, wie leicht das Vorhaben gelang. In wenigen Augenblicken stand er wieder auf dem Waldweg und schaute zurück, dorthin, wo eben noch sein Leben an einem seidenen Faden gehangen hatte.

   Er atmete tief durch. Dann wurde ihm langsam bewusst, was hier vor einigen Minuten geschehen war. Meike, seine Frau Meike, war diesen Abhang hinuntergestürzt. Sie musste sich das Genick gebrochen haben. Sie hatte sich das Genick gebrochen. Ganz sicher. Ihm war zum Heulen.

   Warum? Warum musste all das geschehen? Er schaute die Böschung hinunter und erblickte wieder das weiße Kleid dort unten. Kein Zweifel. Meike war tot. Sekundenlang bewegte er sich nicht. Stand einfach so da und wusste nicht weiter. Das hatte er nicht gewollt. Das nicht.

   Allmählich erwachte er aus seiner Lethargie. Es mochten drei, vier Minuten vergangen sein. Hob vorsichtig seinen Kopf und sah in den Wald hinein. Mittlerweile konnte man alles gut erkennen. Die Bäume, das Moos am Boden, den Weg. Er fragte sich, wie spät es war. Die Abfahrt von zu Hause lag doch keine Stunde zurück. Also, wieso war es hier im Wald jetzt so hell?

   Als er sich umwandte, um zur Straße zurückzublicken, setzte sein Herz aus. Da saß Meike unter einer Tanne und blickte ihn an. Mit feurigen Augen. Im weißen Kleid. Er schluckte. Vorsichtig trat er näher.

   „Was machst du hier oben?“

   Ohne zu antworten, erhob sie sich und kam auf ihn zu. Er wich zurück. Sie trat an den Abgrund, blieb stehen und wandte sich um. Winkte. Mit unsicheren Schritten folgte er ihrer Aufforderung. Vorsichtig. Ängstlich. Sie zeigte mit dem Arm nach unten. Dort lag die Frau im weißen Kleid. Und neben ihr, mit seltsam verdrehten Gliedmaßen: er selbst.

 

Werner hatte Meikes Bruder alles erzählt. Über den Tag des Kennenlernens, den zaghaften Kuss Wochen später, das erste Schäferstündchen. Und davon, wie satt Meike alles hatte: die Ehe mit Frank, die Langeweile, eine Zukunft ohne Perspektive.

   Der Wirt stellte zwei neue Flaschen Flens auf den Tresen.

   „Sie will es ihm sagen.“

   Werner nahm den Bügelverschluss seiner Flasche auseinander und spielte mit dem Gummiring zwischen seinen Fingern. „Nicht heute, aber ...“

   „Wenn du das glaubst, Werner …“ Horst-Dieter unterbrach seine Rede, denn er musste darüber nachdenken, wie er dem Charakter seines Schwagers gerecht werden konnte. „Frank würde durchdrehen“, setzte er fort. „Ich sag´s dir. Und er würde sie umbringen. So weit würd´s kommen.“

   Beide starrten während ihres Gesprächs fortwährend auf ihre Flaschen, die vor ihnen standen, so, wie Männer es für gewöhnlich tun, wenn sie sich an einem Tresen aufhalten. Dann veranlasste ein Luftzug, der vom Öffnen der Außentür herrührte, die zwei, ihren Blick zu heben. Durch den geöffneten Eingang betraten zwei Personen den Schankraum, die es offensichtlich zur Halloween-Party zog, denn sie hatten sich beide in zauberhaft gruselige Monster verwandelt, der Mann in einen bluttriefenden Vampir von überirdischer Schönheit und die Frau in ein Mordopfer mit eingeschlagenem Schädel. Das Blut lief ihr übers Gesicht in den Ausschnitt ihres weißen Kleides hinein.


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