Angelas erste Erfahrungen im Jenseits

                                                                                                                Seite 188 - 190

 

 

Als sie sich traurig von Chris entfernt hatte, bemerkte sie eine auffallende Veränderung der Umgebung: Ohne dass sie sich bewegte, ohne dass sie ansatzweise verstanden hätte, wie das geschah, verblasste das Bild des Krankenzimmers allmählich, in dem sie sich eben noch mit den anderen befunden hatte, und machte einer anderen Szenerie Platz.

Sie befand sich jetzt in einer Landschaft, wie sie noch nie eine gesehen hatte. Sie stand am Abhang eines sanft abfallenden Hügels auf einer Wiese mit Gräsern so grün und Blumen so bunt, dass sie ihre Augen nicht abwenden mochte. Unten im Tal sah sie ein Dorf, wie es ihr ähnlich aus Kupferstichen von Ludwig Richter oder aus Tagen ihrer eigenen Kindheit bekannt war, und drüben auf der anderen Seite des Tales erhob sich hinter den grünen Hügeln eine Gebirgskette von so außergewöhnlicher Schönheit und Erhabenheit, dass ihr Tränen in die Augen traten.

„Warum weinst du?“

Erschrocken drehte sie sich um. Neben ihr stand ein feiner Herr in einem langen braunen Gewand, wie es Menschen im nahen Osten tragen, und sah sie aus tiefen, dunklen Augen liebevoll an.

Sie suchte nach Worten. „Weil ich … glücklich bin“, antwortete sie dem Fremden.

Der strömte eine solche Friedfertigkeit und ein solches Vertrauen aus, dass sie sich in seiner Nähe sofort geborgen und geliebt fühlte.

„Wer bist du?“ fragte sie ihn.

„Nenne mich Ali, wenn du willst!“

Seine Stimme war tief und sehr angenehm, und als sie genauer hinsah, bemerkte sie das gleiche wie während der Szene des Unfalls: Er bewegte beim Sprechen seine Lippen nicht.

„Wie kommt das? Du sprichst nicht, und ich höre dich doch?“

„Du hast dieses Phänomen vor ein paar Minuten, als du gestorben bist, schon einmal erlebt. Du hörst mich nicht, weil ich nicht spreche. Sondern du nimmst meine Gedanken wahr. Wie sonst sollte hier Kommunikation geschehen?“

Er hatte mit einer ausholenden Bewegung den Arm über das Tal, die Wiesen und die Berge schweifen lassen.

„All die Seelen, die auf diesen Ebenen wohnen, drückten sich auf der Erde in den verschiedensten Sprachen aus. Sie würden sich hier untereinander nie verständlich machen können, wenn sie jetzt immer noch ihre Muttersprache benutzten.“

Sie war während seiner Rede mit den Augen der Armbewegung gefolgt und bemerkte erst jetzt das wunderbare Leuchten, das jedem Teil der Landschaft, jedem Gegenstand, jeder Blume, jedem Baum und Haus innewohnte.

„Was ist das?“ fragte sie ihn. „Was ist das für ein Leuchten?“

Er lächelte leise in sich hinein, als er antwortete: „Diese Frage ist immer eine der ersten, die mir gestellt werden. Ich kann das gut verstehen, denn dieses Leuchten ist wirklich wunderschön und sehr auffällig. Es ist ein Leuchten, das von innen kommt. Es zeigt dir, dass all das, was du hier siehst und was aber genauso wirklich ist wie alles, was du in deinem vorigen Leben gekannt hast, aus deinen und meinen Gedanken entsteht, aus den Gedanken aller, die auf dieser Ebene leben. Das ist eine Funktion der göttlichen Liebe, wenn du so willst, eine unmittelbare Folge dieser Liebe. Die Materie, aus der unsere Welt gebaut ist, besteht aus dem, was ihr auf der Erde Gedankenform nennt.“

Während des Gesprächs waren die beiden Seelen langsam eine kleine Allee entlang gewandert und hatten jetzt den Anfang des Dorfes erreicht.

„Ich werde dich alleinlassen, denn du wirst dich ausruhen wollen. Wenn du in das Dorf gehst, wird dir ein Haus vertraut erscheinen.“

Damit verschwand der Fremde so plötzlich, wie er gekommen war.